Versorgungsstrukturen umbauen

Wolgast

Von geschlossenen Klinikstationen, einer pädiatrischen Praxisklinik und der Suche nach einer dauerhaften Lösung

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Entwicklungsgeschichte

Das Ausgangsproblem

Im Krankenhaus in Wolgast wurde zunächst die Gynäkologie und Geburtshilfe geschlossen, nur wenige Monate später auch die Kinderstation. Wut, Frust und Proteste der Bevölkerung waren die Folge. 

Die zeitlich befristete Zwischenlösung

Einrichtung einer Kinderportalpraxisklinik als Pilotprojekt: In dieser pädiatrischen Gemeinschaftspraxis können Kinder an jedem Tag der Woche von morgens bis abends ambulant behandelt werden, einige Stunden zur Beobachtung bleiben oder für eine längere stationäre Behandlung nach Greifswald gebracht werden. 

Wie es zum Pilotprojekt kam

Treibende Kräfte für diese Entwicklung waren die nicht nachlassenden Proteste der Bevölkerung, das Erstarken extremer politischer Kräfte bei den Landtagswahlen und vielleicht auch die Erkenntnis, mit der Schließung der Kinderstation eine Versorgungslücke für Wolgast und Usedom gerissen zu haben: Es kam Bewegung in die Sache. Ein weiteres Argument waren die jährlich eine Million Usedom-Touristen, darunter 200.000 Kinder. So wurde als Pilotprojekt am Kreiskrankenhaus Wolgast eine pädiatrische Portalklinik eingerichtet.

Das Ende des Pilotprojekts

Nach Ablauf der Modellphase der Kinderportalpraxisklinik wurde entschieden, diese Struktur nicht weiter zu betreiben. Für die geringe Nachfrage war die Kinderportalklinik zu teuer.

Die neue Lösung

Honorarärzte werden an Wochenenden und Feiertagen weiterhin eine ambulante Sprechstunde anbieten – in der Notaufnahme. Was wegfällt, sind die Zeiten zwischen Praxisschluss und 21 Uhr unter der Woche und die tagesklinischen Betten. Ein Kompromiss, mit dem auch die Bürgerinitiative leben kann.

Reportage

Die Wut von Wolgast – und warum der Weg beim Gehen entsteht  

In Wolgast gab es jahrelangen Widerstand gegen die Schließung der Gynäkologie- und Geburtshilfe sowie der Kinderstation im örtlichen Krankenhaus. Der endete auch nicht, als die Politik zumindest für die Kinder eine kleine Lösung schuf. Inzwischen ist das Modellpilotprojekt schon wieder Geschichte – aber die Region trotzdem einigermaßen befriedet. Denn beim zweiten Mal hat die Politik vieles anders gemacht – und sich erklärt. 

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01: Ein schwieriger Weg – er hätte leichter sein können

Wer an einem verregneten Novembertag mit dem Zug in Wolgast ankommt und am Bahnhof statt am Hafen aussteigt, wer deshalb die lange Straße in den Ort geht, weil der Bus gerade weg ist und auch kein Taxi am Bahnhof steht, wer dann im Ortskern die vielen „zu vermieten“-Schilder in den Schaufenstern sieht, der bekommt ein Gefühl dafür, was die Menschen meinen, wenn sie sagen: „Wir sind hier abgehängt“. Der versteht, warum es viele Wolgaster vor allem wütend gemacht hat, als Ende 2015 im örtlichen Krankenhaus zunächst die Gynäkologie und Geburtshilfe und nur Monate später auch die Kinderstation geschlossen wurden.  

Was folgte, waren Jahre der Auseinandersetzung, des Zorns, der Frustration – und der mangelhaften Versorgung der Kinder von Wolgast und der vielen Touristen auf Usedom. Ob es sich dabei um eine reale oder um eine gefühlte Mangelversorgung handelte, hängt ganz davon ab, wen man fragt. Aber genau diese unterschiedliche Wahrnehmung ist Teil des Problems. Die Politik probierte eine kleine Lösung aus: Die Kinderportalpraxisklinik. Wegen fehlender Nachfrage wurden deren ursprüngliche Öffnungszeiten zwar inzwischen wieder eingeschränkt. Aber immerhin gibt es ein neues ambulantes Angebot an den Wochenenden und freitags.

In Wolgast kann man lernen, wie komplex Transformationsprozesse sind, wie wenig linear, und dass man dabei auf der Suche nach Lösungen zuweilen auch Wege beschreitet, die sich zwar als Sackgassen erweisen, die aber trotzdem keine Irrwege sind. Man kann sehen, wie entscheidend dabei der Anfang einer Transformation ist, und wie sehr Politik langfristig in die Defensive geraten kann, wenn sie am Anfang nicht ausreichend kommuniziert. Wolgast ist aber auch ein Beispiel dafür, dass verloren gegangenes Vertrauen zurückkehren kann. Aber auch, dass das ein langer und zuweilen schmerzhafter Weg ist, den nicht alle mitgehen. Er hätte kürzer und leichter sein können. 

02: Abgehängt – mal wieder

Denn man hätte wissen können, dass die Wolgaster es nicht einfach so hinnehmen würden, wenn ihnen schon wieder etwas genommen würde. Denn das war seit der Kreisgebietsreform von 2011 schon häufiger passiert. Seitdem ist Wolgast Teil des Landkreises Vorpommern-Greifswald, der ist mit knapp 4000 Quadratkilometern drittgrößter Landkreis in Deutschland.  

Im Zuge der Reform waren Einrichtungen zentralisiert worden. Allerdings nicht in der kleinen Stadt an der Peene. Amtsgericht, Bauamt, Finanzamt: alles in Wolgast geschlossen und nun in Greifswald oder Pasewalk. Und so war es der berühmte Tropfen, der das schon randvolle Fass zum Überlaufen brachte, als im November 2015 die damals zuständige Ministerin verkündete, dass Geburtshilfe und Kinderstation im Kreiskrankenhaus Wolgast in wenigen Monaten schließen und die Versorgung von Frauen und Kindern stattdessen in der privaten Ameos-Klinik in Anklam stattfinden würde. Im Gegenzug sollte die Geriatrie in Wolgast ausgebaut werden. Stefan Weigler, von 2008 bis Oktober 2022 Bürgermeister von Wolgast, erinnert sich: „Die Ministerin ist nach Wolgast gekommen und hat das hier verkündet. Nach einer halben Stunde ist sie wieder weggefahren. Hat weder mit mir gesprochen noch mit den Bürgern, die sich vor dem Krankenhaus versammelt hatten“. Dabei hatten sich Klinikbeschäftigte, Bürger und Lokalpolitiker schon viele Gedanken um ihr Krankenhaus gemacht. Denn es war ihnen ja nicht entgangen, dass ihr 155-Betten-Haus zumindest in Teilen, vielleicht aber auch komplett, in Gefahr war. Sie hatten sogar ein eigenes Konzept entwickelt und vorgelegt. Dafür hat sich aber niemand interessiert. 

03: Die ungeliebte Tochter

Aber wie war es überhaupt so weit gekommen? Ex-Bürgermeister Weigler schildert das so: Bis Anfang der 2000er Jahre sei das Kreiskrankenhaus Wolgast ein „kleines, kompaktes und modernes Krankenhaus gewesen, das deutlich schwarze Zahlen schrieb“. 1990 grundsaniert, sei es ein Grund- und Regelversorger mit Pädiatrie und Geburtshilfe, mit eigener Küche, eigener Reinigung und rund 400 Beschäftigten gewesen, das dem Landkreis gehörte. Der war allerdings finanziell klamm und versuchte seine Lage zu verbessern, indem er das Krankenhaus zum Verkauf anbot.  

Es gab mehrere Interessenten. Den Zuschlag erhielt die Universitätsmedizin Greifswald. Das hatte den Vorteil, dass damit auch gleich deren Zahlen an Behandlungen und Patienten steigen würden. Denn das Universitätsklinikum Greifswald hatte zu jenem Zeitpunkt nur 778 Betten. Der Wissenschaftsrat hielt für eine Universitätsmedizin jedoch mindestens 850 für erforderlich. Die medizinische Fakultät in Greifswald war also bedroht, die 180 Betten der Wolgaster Klinik waren höchst willkommen. 2005 wurde der Kaufvertrag geschlossen.

Vollzogen wurde die Fusion allerdings erst drei Jahre. Zunächst legte nämlich das Bundeskartellamt Einspruch ein: Es befürchtete, das Universitätsklinikum Greifswald werde durch die Fusion in der Region marktbeherrschend. Die Greifswalder klagten gegen diese Entscheidung und beantragten zudem eine Ausnahmegenehmigung beim Bundeswirtschaftsminister – das war damals Michael Glos (CSU). Der sah tatsächlich die Existenz des Uniklinikums gefährdet und erteilte 2008 die gewünschte Sondererlaubnis. Außerdem kassierte – ebenfalls 2008 - das Oberlandesgericht (OLG) Düsseldorf den Spruch des Bundeskartellamtes. 

04: Der Protest

Das Krankenhaus in Wolgast wurde also eine Tochter der Universitätsmedizin, „aber eine ungeliebte Tochter“, sagt Cornelia Meerkatz, Redakteurin der Ostsee-Zeitung.  

Lukrative Behandlungen wurden zunehmend in Greifswald zentralisiert. Ab 2013 wurde über Verluste des Wolgaster Krankenhauses berichtet. Einige sagen, Rettungswagen seien gezielt an Wolgast vorbei nach Greifswald gefahren. Andere sagen, dass beispielsweise die Frauen auch von sich aus für Entbindungen lieber nach Greifswald gefahren seien, weil man sich dort besser versorgt fühlte. So oder so: Die Bedingungen wurden schwieriger, auch die Zahl der Geburten gingen zurück. Und so war die 2015 verkündete Aufgabenteilung zwischen Anklam und Wolgast auch der Versuch, zwei kleine Krankenhäuser zu retten.  

Dabei hatten die Bürger von Wolgast das noch zu verhindern versucht: Als Anfang 2015 die Schließung der Geburtshilfe und der Pädiatrie erstmals zur Debatte stand, gründete sich im März die Bürgerinitiative „Verein für den Erhalt des Kreiskrankenhauses Wolgast e.V. mit allen arbeitsfähigen Abteilungen“. Sie sammelte über 18.000 Unterschriften und organisierte Demonstrationen mit bis zu 1000 Teilnehmenden. Außerdem entwickelten Klinikbeschäftigte, Bürger, Bürgermeister ein alternatives Konzept: Das Krankenhaus sollte Arztsitze kaufen und eine Art Poliklinik für Kinder eröffnen, „man hätte die Zahl der Kinderbetten reduzieren und für das Konzept drei Jahre lang Zuschüsse vom Land bekommen können“, sagt Weigler. Aber Land und Universitätsmedizin hätten einen anderen Plan gehabt, sie hätten „Strukturen mit der Keule“ geschaffen.

Doch auch nachdem die Schließung von Pädiatrie und Geburtshilfe vollzogen worden war, ließen die Wolgaster nicht locker, sie organisierten weiterhin Demonstrationen, wöchentliche Mahnwachen vor dem Krankenhaus und sammelten 2016 innerhalb weniger Wochen rund 19.000 Unterschriften für eine Volksinitiative, die die Wiedereröffnung der geschlossenen Stationen durchsetzen wollte. Der Landtag lehnte das Anliegen ab. 

05: Ein Einlenken? Die Kinderportalpraxisklinik

Und so wuchs der Frust. Auch wegen des Gefühls, nicht wahrgenommen zu werden. „Die Politiker haben uns zuerst komplett ignoriert. Die kamen erst nach dem Wahldebakel 2016“, erzählt Harald Heß, von 2016 bis März 2022 im Vorstand der Bürgerinitiative (BI). Denn bei der Landtagswahl 2016 bekamen die Vertreter der großen Parteien die Wut der Wolgaster zu spüren: CDU und SPD lagen gemeinsam unter 30 Prozent der Stimmen, die AfD hatte alleine um die 35 Prozent.

„Die haben gedacht: Wir sitzen das aus, das erledigt sich von selbst. Aber nein, es erledigte sich nicht von selbst“, sagt Cornelia Meerkatz. Das Wahlergebnis, die nicht erlahmenden Proteste, vielleicht auch die Erkenntnis, mit der Schließung der Kinderstation eine Versorgungslücke für Wolgast und Usedom gerissen zu haben: Es kam Bewegung in die Sache. Der damalige Wirtschafts- und Gesundheitsminister Harry Glawe (CDU), kam mehrmals nach Wolgast und kündigte 2016 das Modellprojekt „Intersektoraler pädiatrischer Notfallversorgung“ an – und verwies dabei auch auf die jährlich eine Million Usedomer Touristen, darunter 200.000 Kinder. Das könnte eine Triebfeder sein, dem Krankenhaus Wolgast entgegenzukommen, sagte er.

Ein knappes Jahr später wurde am Kreiskrankenhaus Wolgast eine Kinderportalpraxisklinik eingerichtet. Sie sollte die Vorteile stationärer Anbindung mit denen einer ambulanten Versorgung verbinden. Als Pilotprojekt für zunächst drei Jahre – die dann um drei weitere verlängert wurden - und mit Millionenzuschüssen des Landes und der Krankenkassen. Dafür wurde auf dem Klinikgelände eine pädiatrische Gemeinschaftspraxis eingerichtet, deren Team die Kinder zu den normalen Sprechstundenzeiten versorgen. Abends bis 21 Uhr, an Mittwoch- und Freitagnachmittagen sowie an den Wochenenden übernahmen zudem Honorarärztinnen und -ärzte die Versorgung der Kinder. Da war beispielsweise eine Wolgaster Kinderärztin dabei, die im Ruhestand ist, aber auch Ärztinnen und Ärzte, die nur für das Wochenende nach Wolgast kamen. Sie entschieden, ob die Kinder jeweils nur ambulant behandelt, einige Stunden zur Beobachtung vor Ort behalten oder zur stationären Behandlung nach Greifswald gebracht werden mussten.

Der ehemalige Bürgermeister Weigler ist sich sicher: „Die Kinderportalpraxisklinik ist definitiv wegen der Proteste entstanden. Das ist ganz klar Verdienst derer, die da ständig protestiert haben.“ 

06: Der Protest vernetzt sich

Und es lag wohl auch daran, dass Wolgast nicht der einzige Krankenhaus-Konfliktherd in Mecklenburg-Vorpommern war. Es gab und gibt viele davon. Ein paar aktuelle Beispiele: In Crivitz im Landkreis Ludwigslust-Parchim hat die mehrheitlich zu Asklepios gehörende Mediclin 2020 die Gynäkologie und Geburtshilfe der Klinik am Crivitzer See geschlossen. Das führte zu erheblichen Protesten in der örtlichen Bevölkerung - aber auch darüber hinaus. Die Landesregierung reagierte umgehend: Mittels einer Finanzspritze in Höhe von sechs Millionen Euro vom Land kaufte der Landkreis das Krankenhaus zurück. Es ist nun wieder in kommunalem Besitz, hat allerdings weiterhin keine Geburtshilfe. Die Klinik in Bergen auf Rügen hat 2021 die Geburtshilfe von der geburtshilflichen Versorgung wegen Personalengpässen zunächst zeitweise abgemeldet – und bisher noch nicht wieder geöffnet (Stand: 05.06.2023). In Parchim hat die Asklepios Klinik 2022 ihre Kinderstation aus Personalmangel geschlossen. Die Schließung war bereits 2020 zeitweise erfolgt, die Station dann aber wieder eröffnet worden.  

In allen Orten haben Bürger ihren Protest organisiert: „PKKB- Parchimer Kinderklinik und Kreißsaal bleiben“, „JA-zum Crivitzer Krankenhaus mit Gyn/Geb“ und „Verein für den Erhalt des Kreiskrankenhauses Wolgast e.V. mit allen arbeitsfähigen Abteilungen“ vernetzten sich und gründeten 2021 das Bündnis „Gerechtigkeit für wohnortnahe Geburtshilfe, Kinder- und Frauengesundheit in MV". Im August 2021 starteten sie – mitten im Landtagswahlkampf - eine Volksinitiative. Die Forderungen: keine weiteren Schließungen von Kreißsälen oder Kinder- und Jugendstationen, den Wiederaufbau der Geburtshilfen in Wolgast, Crivitz und Bergen und der Kinderstationen in Wolgast und Parchim, sowie mehr niedergelassene Kinderärzte und Hebammen für Mecklenburg-Vorpommern und eine Bundesratsinitiative zur Abschaffung des DRG Fallpauschalen-Systems zur Abrechnung in Krankenhäusern oder dessen grundlegende Reformierung. Allerdings wurden die erforderlichen 15000 Unterschriften noch nicht erreicht. Aktuell ist es ruhig um das Bündnis. 

07: Kommission soll landesweite Probleme lösen

Mecklenburg-Vorpommern hat schon länger Probleme mit seiner Krankenhausstruktur: Das Bundesland hat die geringste Bevölkerungsdichte (69 Einwohner pro Quadratkilometer) und auch die geringste Krankenhausdichte in Deutschland (37 Krankenhäuser – inklusive Tageskliniken - auf 23.000 Quadratkilometern). Reformen finden also auf einem ohnehin niedrigen Niveau statt - auch deshalb wird um jeden Standort gerungen und gekämpft. Hinzu kommen enorme saisonale Schwankungen der Patientenzahlen wegen der Touristen. Das Bundesland hat zudem eine hohe Privatisierungsquote – 60 Prozent der Kliniken sind in privater Trägerschaft. Die Politik hat in vielen Regionen also nur begrenzten Einfluss auf Entscheidungen zu Schließungen von einzelnen Stationen oder ganzen Standorten. Um die medizinische Versorgung in dem Bundesland langfristig und flächendeckend zu sichern, hat die Landespolitik bereits mehrere Kommissionen damit beauftragt, entsprechende Konzepte zu entwickeln. Etwa die Enquete-Kommission „Älter werden in Mecklenburg-Vorpommern“ (2012 – 2016) sowie die die Enquete-Kommission „Zukunft der medizinischen Versorgung in Mecklenburg-Vorpommern“ (2020–2021). Letztere forderte unter anderem: weiterer Abbau von Geburtenstationen, mehr Konzentration bei Krankenhausbehandlungen, neben großen Krankenhäusern sollte die medizinische Versorgung mittels Gesundheitszentren mit unabhängigen Fachärzten abgesichert werden. Politikerinnen und Politiker reagierten auf die Vorschläge mit dem umgehenden Bekenntnis, alle Krankenhausstandorte erhalten zu wollen.  

Die aktuelle Landesregierung hat nun die „Kommission zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung in Mecklenburg-Vorpommern“ eingerichtet. „Deren erste Aufgabe ist es aktuell, ein Zielbild für die Pädiatrie und für die Geburtshilfe in Mecklenburg-Vorpommern zu entwickeln“, sagt Ursula Claaßen, Abteilungsleiterin Gesundheit im Ministerium für Soziales, Gesundheit und Sport Mecklenburg-Vorpommern. Sie hofft, dass es gelingt, dass die verschiedenen Akteure ein gemeinsames Verständnis entwickeln, dem sie sich dann auch verpflichtet fühlen. Dabei ginge es um vier große Planungsregionen des Landes, um auch regionale Komponenten einzubeziehen. So ein Zielbild sei wichtig, um nicht immer nur reagieren zu müssen, sondern auch „vor die Lage zu kommen“.   

08: Unruhe wird chronisch

Doch zurück ins Jahr 2017: In Wolgast sprang die Stimmung trotz Kinderportalpraxisklinik nicht sofort auf Euphorie um. Personell blieb es schwierig in der Klinik. Geschäftsführer kamen – und gingen vor allem schnell wieder. Einige hatten wohl große Pläne, mussten aber feststellen, dass sie nur so etwas wie Leiter einer Filiale der Universitätsmedizin waren und kaum eigene Entscheidungen treffen sollten. Zwischendurch gab es auch immer wieder das Modell, dass das Führungspersonal aus Greifswald die Klinik in Wolgast „mitmachen“ sollte. 16 Geschäftsführer hat Weigler in seinen 14 Jahren als Bürgermeister begrüßt. Die Unruhe wurde chronisch. Gegner der BI sagen, das hätte auch daran gelegen, dass deren Mitglieder das Krankenhaus schlecht geredet hätten. Die weisen das energisch zurück und sagen, sie seien immer für das Krankenhaus gewesen. Weigler sagt: „Diese ganzen Diskussionen haben viel kaputt gemacht. Das Haus stand ja nie komplett zur Disposition. Aber diese Behauptung einzufangen, hat zwei bis drei Jahre gekostet und ganz viel Aufwand.“ Das hätte man sich alles ersparen können, wenn man anders kommuniziert hätte.  

2019 gab es Bemühungen, dass der Landkreis mindestens 25 Prozent an der Klinik zurückkaufte. Die Stadt Wolgast kämpfte dafür – aber der Vorschlag fand im Kreistag keine Mehrheit. Die Unimedizin wollte ja auch gar nicht verkaufen. Und so blieb es bei weitgehend einflusslosen fünf Prozent.

Die Bürgerinitiative forderte weiterhin die Wiedereröffnung der Geburten- und einer vollwertigen Kinderstation – und setzte ihre wöchentlichen Mahnwachen fort. Die wurden allerdings immer kleiner. Die jungen Familien kamen nicht mehr, weil sie sich mit der Kinderportalpraxisklinik ganz gut versorgt fühlten. Und andere wollten nicht gemeinsam mit den AfDlern und den AfD-Anhängern auf der Straße gesehen werden, die sich nun auch unter die Initiative gemischt hatten.  

09: Bürgerinitiative: Zwischen Frust und Genugtuung

Von den ehemals rund 80 Mitgliedern der Bürgerinitiative sind noch um die 30 geblieben. Die Stimmung? Da ist einerseits Genugtuung über die kleine Lösung der Kinderportalpraxisklinik und auch darüber, dass die Politik nun endlich kritisch über DRGs diskutiere und die Reformkommission auf Bundesebene besonders im Bereich der Kinderheilkunde empfohlen habe, sich stärker an den Vorhaltekosten zu orientieren „das ist ja genau das, was wir schon vor sechs Jahren gesagt haben“, sagt Heß. Aber da ist auch Resignation darüber, dass sich in Sachen vollwertiger Kinder- und Wiedereröffnung einer Geburtenstation am Wolgaster Krankenhaus wohl nichts tut. Deshalb beantragte der Vorstand im vergangenen Jahr bei einer Mitgliederversammlung, die BI aufzulösen. Doch der Vorschlag fand nicht die nötige Zweidrittelmehrheit. Und so trat der alte Vorstand zurück und aus der BI aus. Neuer Vorsitzender der BI ist Eugen Stark. Der hat in den vergangenen Monaten, als es darum ging, ob die Kinderportalpraxisklinik nach dem Ende der Pilotphase dauerhaft erhalten bleibt, gemeinsam mit den anderen neuen Vorstandsmitgliedern, viele Gespräche geführt und sagt: „Wir wollen, dass das Krankenhaus der Grund- und Regelversorgung langfristig gesichert bleibt und hätten uns gewünscht, dass die Kinderportalpraxisklinik auch über die Pilotphase hinaus erhalten und gestärkt geworden wäre“ Darauf hätte die BI noch einmal die öffentliche Aufmerksamkeit gerichtet.

Dass das Krankenhaus insgesamt abgewickelt werden könnte, stand und steht zwar gar nicht zur Diskussion – 2021 wurde die zweite geriatrische Station eingerichtet und die Klinik erhält gerade eine neue Notaufnahme, die das Land mit mindestens acht Millionen Euro fördert - aber Martin Schröter, seit Oktober 2022 Bürgermeister von Wolgast, kann die Sorgen verstehen. „Die Stadt Wolgast hat ja keinerlei Einfluss auf die Entscheidungen der Uniklinik. Die stehen ja aber in ganz anderen Zwängen, und wir sind abhängig von deren Planzahlen und Strategien“. Er würde sich deshalb wünschen, dass die Stadt auch Anteile an dem Krankenhaus hätte. Vor der Bürgerinitiative habe er große Achtung. Die Menschen forderten ja eigentlich nur Beteiligung. 

10: Ist Wolgast befriedet? Auf dem Weg dahin

Das sieht auch Cornelia Meerkatz so: „Ich glaube, dass der Protest und die Konflikte vor allem deshalb schon so lange dauern, weil die Menschen - und vor allem die BI - von der Politik und von der Unimedizin einfach nicht ernst genommen wurden.“ Dabei hätten die sich doch nichts vergeben, wenn sie sie einfach mal eingeladen und die Hintergründe erklärt hätten. Aber die Menschen sind immer nur vor vollendete Tatsachen gestellt worden, und das schafft doch immer nur mehr Frust.“  

Auch Ex-Bürgermeister Weigler kritisiert: „Aus meiner Sicht hätte man doch sagen können: Passt auf, wir haben da ein Problem. Lasst uns mal gemeinsam nach einer Lösung suchen. Stattdessen habe man eine Basta-Politikentscheidung getroffen.“ Er ist überzeugt, „dass alle anderen Entscheidungen hinterher nicht nötig gewesen wären, wenn man das vorher anders gemacht hätte.“  

Und so kann man an den Vorgängen rund um das Wolgaster Krankenhaus lernen, wie fehlende Kommunikation Misstrauen und Frustration schafft, Spekulationen anheizt und so irgendwann jede Art von Lösung, die nicht den Maximalforderungen entspricht, auf Ablehnung stößt. Durch die Schaffung der Kinderportalpraxisklinik wurde der Prozess in Teilen zurückgenommen, der Protest isoliert. Aber er hat auch ein Projekt geschaffen, das viel Geld gekostet hat und das nun letztendlich wieder eingestellt wurde. Bürgermeister Martin Schröter sagt es so: „Gültig bleibt die Erkenntnis, dass hier 2016 ein politischer Fehler begangen wurde, dessen Versuch einer Heilung mit dem Konzept der Kinderportalpraxisklinik sehr teuer bezahlt wurde.“ Den damaligen, sehr radikalen Schließungen der Frauen- Geburts- und Kinderstationen in Wolgast seien politische Ränkespiele vorausgegangen, deren willkürlicher Natur wegen die Stimmung bis heute nicht ganz entgiftet werden konnte. „Die nun gefundene Lösung einer aufgewerteten ambulanten pädiatrischen Grundversorgung beruht auf den Erfahrungen der vergangenen Jahre. Sie ist damit praxisnah konzipiert, solide und ganz bestimmt im Sinne der Familien aus der Region.“ Die Bürgerinitiative trage an diesem Erfolg einen nicht unwesentlichen Anteil. 

11: Kontinuität und Kommunikation im Krankenhaus

Bürgermeister Schröter findet: „Die Kommunikation zwischen der Krankenhausleitung und der Stadt Wolgast habe sich zu einem angenehm konstruktiven Dialog mit guten Zukunftsperspektiven entwickelt.“ Dass trotz schwieriger Zeiten mit Corona und Energiekrise wenigstens personell so etwas wie Ruhe eingekehrt ist im Krankenhaus, liegt wohl vor allem an dem aktuellen Führungsduo: Carsten Köhler ist seit 2021 Geschäftsführer und damit schon länger als viele seiner Vorgänger. Über ihn heißt es anerkennend: „Der ist einer von hier“. Und tatsächlich hat der gebürtige Usedomer die Geschicke – und Schwierigkeiten – seiner Klinik nie aus den Augen gelassen und wusste, worauf er sich einließ, als er 2021 nach Stationen in Heidelberg, Berlin und Potsdam zurück in die Heimat kam. Das gilt auch für Dr. Maria Zach, die in der Unimedizin in Greifswald gearbeitet hat, bevor sie 2020 Chefärztin und Ärztliche Direktorin in Wolgast wurde. Cornelia Meerkatz sagt: „Die beiden sind eine Idealbesetzung, die brennen für dieses Krankenhaus. Die meinen es wirklich ernst. Seitdem ist da wieder eine freundliche Stimmung. Ich glaube, das ist die Chance für die Klinik.“  

Auch in der Unimedizin hat die Spitze gewechselt. Köhler beschreibt seinen Kontakt nach Greifswald als sehr gut: „Ich kann mich hier frei entfalten und auch relativ frei entscheiden. Das war wohl früher anders.“ Er und Zach setzen auf Kommunikation – nach innen wie außen (siehe Interview). Das - in Kombination mit der Stabilität - und den sichtbaren Bekenntnissen zum Standort wie die erweiterte Geriatrie und die neue Notaufnahme haben inzwischen wieder ein wenig Vertrauen entstehen lassen.  

12: Suche nach einem Kompromiss, der trägt

Auch Ursula Claaßen aus dem Ministerium für Soziales, Gesundheit und Sport Mecklenburg-Vorpommern sagt in Bezug auf die Schließungen 2016: „Wenn so eine Station geschlossen wird, ist es wichtig, dass man frühzeitig eine Alternative entwickelt und auch in die Kommunikation kommt. Das haben wir in Wolgast wohl unterschätzt“. Und so teilt sie die Einschätzung, dass die Kinderportalpraxisklinik vor allem wegen des anhaltenden Protests eingerichtet wurde, „man wollte der Region das Gefühl nehmen, politisch abgehängt zu sein“. Dabei habe geholfen, dass alle Akteure sich einig waren, den Versuch unternehmen zu wollen und ihn zu finanzieren. Dabei habe sich herausgestellt, dass der Bedarf gar nicht so groß sei. Deshalb seien nach dem Ende der ersten Pilotphase nach drei Jahren auch die Öffnungszeiten auf tagsüber eingeschränkt worden. „Aber durch die Ansiedlung der pädiatrischen Gemeinschaftspraxis auf dem Klinikgelände ist auch die ambulante Versorgung gestärkt worden. Es ging ja vor allem darum, einen Anlaufpunkt zu schaffen, wo die Menschen in Wolgast und ihre Kinder Hilfe finden“.

Inzwischen ist Ende Mai die Modellphase der Kinderportalpraxisklinik ausgelaufen. Bürgerinitiative, Bürgermeister und viele andere in Wolgast hatten gehofft und sich dafür eingesetzt, dass sie dauerhaft gesichert würde. Die Landesregierung hat nun anders entschieden. Denn das von Krankenkassen und Land finanzierte Angebot war defizitär: Pro Jahr kamen nur rund 1000 kleine Patientinnen und Patienten. Krankenhaus-Geschäftsführer Köhler erklärt: „99,9 Prozent waren leichte ambulante Fälle, die ohne weiteres in einer ganz normalen Kinderarztpraxis hätten versorgt werden können. Dafür war die Struktur der Kinderportalpraxisklinik viel zu aufwändig“. Für echte Notfälle sei die Universitätsmedizin in Greifswald in 20 Minuten zu erreichen, „und wenn sich ein Kind hier beim Fußballspielen die Hand bricht, dann wird das ja von unserer Chirurgie versorgt“. 

13: Eine Lösung für die Zukunft

Die Politik hat sich dennoch dagegen entschieden, das Angebot einfach zu schließen: Gesundheitsministerin Drese war mehrfach vor Ort, hat auch mit der BI gesprochen und schließlich verkündet, dass Honorarärzte an Wochenenden und Feiertagen weiterhin eine ambulante Sprechstunde anbieten werden – in der Notaufnahme. Was wegfällt, sind die Stunden zwischen Praxisschluss und 21 Uhr in der Woche und die tagesklinischen Betten. Das ist ein Kompromiss, mit dem auch die BI leben kann. Vorsitzender Eugen Stark: „Wir können ja vor der Realität nicht die Augen verschließen, wenn eine Kinderportalpraxisklinik sich nicht trägt, dann kann es sie so nicht dauerhaft geben.“ Er hätte sich trotzdem gewünscht, nicht erst wenige Wochen vor dem Auslaufen des Projektes von den Überlegungen zu erfahren, sondern früher: „Dann hätten wir vielleicht auch noch eigene Vorschläge erarbeiten können“. Klar ist: Die Bürgerinitiative wird die gesundheitliche Versorgung in der Region auch weiterhin kritisch begleiten: „Gerade auch vor dem Hintergrund der anstehenden Reformen auf Bundesebene.“

Das Land fördert die neue Lösung mit einer knappen Million Euro, zunächst bis 2026. Es ist – so sagt Carsten Köhler, „eine politische Entscheidung“. Und es ist wohl vor allem der Versuch, die zarte Pflanze Vertrauen, die nach harten Zeiten gerade erst zu wachsen begonnen hat, nicht gleich wieder abzumähen. 

Weiterentwicklung des Vorhabens

Weiterentwicklung des Vorhabens

Wir begleiten den Transformationsprozess in verschiedenen Regionen Deutschlands kontinuierlich. 

So erhalten wir tiefere Einblicke in den Wandel des Gesundheitssystems vor Ort und können Prozessschritte im Zeitverlauf abbilden.

Februar 2024

Im Kreiskrankenhaus Wolgast wurde kürzlich der Bauantrag für die neue Notaufnahme gestellt. Gedanken machen der Klinikleitung allerdings die Pläne der Bundesregierung zur Krankenhausreform, besonders die darin vorgesehene Einordnung des Leistungsspektrums in Leistungsgruppen. Denn künftig dürfen Kliniken Leistungen nur noch erbringen, wenn Sie Mindeststandards hinsichtlich technischer Ausstattung sowie des fachärztlichen und pflegerischen Personals erfüllen. Wird dabei ausreichend berücksichtigt werden, dass das dünn besiedelte Mecklenburg-Vorpommern schon jetzt die geringste Kranhausdichte aller Bundesländer hat? Wie sollen Bevölkerung und Touristen künftig versorgt werden? Und wie lässt sich mit dieser ungewissen Perspektive planen und Personal gewinnen? In Wolgast hofft man auf schnelle Antworten aus Berlin. 

August 2024

490 Mahnwachen in neun Jahren: Ende Juli hat die Bürgerinitiative (BI) zum Erhalt des Kreiskrankenhauses Wolgast die letzte Mahnwache vor der Klinik abgehalten und sich aufgelöst. Es fehlte an Nachwuchs.

Das reduzierte Angebot der Kinder-Portalpraxisklinik wird weiterhin auf niedrigem Niveau genutzt. Ausgebaut wurde hingegen der Schwerpunkt Altersmedizin: Für eine großangelegte Gesundheitsstudie der Universitätsmedizin Greifswald wurde in Wolgast gerade ein geriatrisches Untersuchungszentrum eingerichtet sowie ein neuer Standort der Landesfachstelle für Wohn- und Digitalisierungsberatung. Sie soll vor allem ältere Menschen und Menschen mit Handicap unterstützen. 

November 2024

Wir verfolgen die Transformationsprozesse in den Regionen kontinuierlich. Weitere Aktualisierungen zu Wandel veröffentlichen wir künftig quartalsweise.

Interview

Interview mit
Dr. Maria Zach & Carsten Köhler

„Zu einer guten Kommunikation gehört auch Ehrlichkeit“

Interview mit Dr. Maria Zach, Chefärztin und Ärztliche Direktorin und Carsten Köhler, Geschäftsführer des Kreiskrankenhauses Wolgast  

Dr. Maria Zach
Carsten Köhler

HEALTH TRANSFORMATION HUB
Wie würden Sie den Prozess beschreiben, der 2016 zu der Schließung der Pädiatrie und der Geburtshilfe in Wolgast geführt hat? 

 

ZACH 
Die Gynäkologie zu schließen, war eine Vernunftentscheidung. Geburten sind an 365 Tagen im Jahr möglich, das ist mit enormen Vorhaltekosten verbunden. Vor allem fehlten Fachkräfte. Ein deutlicher Rückgang der Geburtenzahlen in der Region machte das Betreiben der Fachabteilung immer schwieriger. Es ging dann für den ganzen Kreis um die Frage: Wo und wie kann ich Strukturen konzentrieren? Umfangreiche Untersuchungen haben dabei Anklam als geeigneten Standort ergeben – die Pädiatrie macht dann auch dort Sinn, weil es ja ohnehin eine kinderärztliche Versorgung braucht.  


KÖHLER
Zudem wurde in der Pädiatrie immer deutlicher, dass es gar nicht die Nachfrage nach dem stationären Angebot gab. Da standen zeitweise fünf Fachärzte für zwei zu versorgende Kinder zur Verfügung. Die Versorgung einfach einzustellen war dabei keine wirkliche Option, zumal es ja auch auf Usedom keinen niedergelassenen Kinderarzt gab. Deshalb folgte auf die Schließung zum 1.2.2016 dann auch schon zum 1.6.2017 die Kinderportalpraxisklinik als Nachfolgelösung.

 

HEALTH TRANSFORMATION HUB
War das von Anfang an so geplant oder gab es diese Lösung nur wegen des massiven Protests? 

 

KÖHLER
Das war auch protestgetriggert. Die Bevölkerung hat gesagt: „Das geht so auf keinen Fall“. Dass der Protest so massiv war, lag sicher auch an der Kommunikation.

HEALTH TRANSFORMATION HUB
Es gibt ja viel Kritik an dem Prozess, es habe viel zu wenig Kommunikation gegeben, da seien Strukturen mit der Keule eingeführt worden. Können Sie das nachvollziehen? 

 

KÖHLER
Man hatte es versäumt, die Menschen abzuholen, sie zunächst mit der Problematik vertraut zu machen und dann die Entscheidung transparent zu transportieren. Das hat nicht stattgefunden. Deshalb gab es einen größeren Aufschrei, und das Thema wurde dann sehr politisch. Es war klar: Wir können das so nicht lassen, wir brauchen eine Alternative – das war ganz klar auch eine Reaktion auf die Proteste.  

HEALTH TRANSFORMATION HUB
Wie bewerten Sie den Prozess, der zu der Schließung damals geführt hat? 

KÖHLER
Zu einer guten Kommunikation gehört auch Ehrlichkeit. Es hätte dazu gehört zu sagen, dass es Abteilungen gibt, die so nicht bestehen bleiben können. Denn die Inanspruchnahme der Pädiatrie in Wolgast etwa war stetig rückläufig. Man hätte sagen müssen: Es gibt ein Angebot, aber das wird einfach nicht in Anspruch genommen. Das hätte man in Richtung Rathaus, in Richtung Unternehmer, Medien und Bevölkerung kommunizieren müssen. Man muss Problembereiche identifizieren und nicht alles rosarot malen. Das ist ausgeblieben. Deshalb kam beispielsweise die Schließung der Geburtshilfe für die meisten überraschend. Dabei weiß ich auch von Usedomer Freunden, dass klar war, wenn man es irgendwie noch schaffte, sollte man zur Geburt an Wolgast vorbei und lieber 20 Minuten weiter nach Greifswald fahren. Über Wolgast haben die Leute gesagt: Da kommen nicht so viele Kinder auf die Welt – das ist keine Qualitätsmedizin. Aber das spontane Kommunizieren löst dann trotzdem den Eindruck aus: Jetzt geht es uns an den Kragen, die nehmen uns etwas weg und führt zu dem Reflex: Wir müssen uns wehren.  


ZACH
Wie das Haus vor zehn Jahren geführt wurde, war es sehr teuer. Es gab die Notwendigkeit für das Überleben zu sparen. Auch die Digitalisierung hat einige Arbeitskräfte überflüssig gemacht. Diese Transformation wurde nicht eindeutig kommuniziert. Diesem Informationshintergrund muss man Rechnung tragen, wenn man Entscheidungen trifft und begründet, indem man beispielsweise Transparenz über die Kostentreiber herstellt. Wenn man das nicht tut, kommt es eben zu dem Gefühl: Wir werden runtergewirtschaftet. 

HEALTH TRANSFORMATION HUB
Also haben Sie Verständnis für die Wut der Bürger? 

 

ZACH
Ja. In den letzten 10 Jahren wurden die Entscheidungen nicht immer so gefällt, dass Wolgast davon profitiert hat. Da gab es schon auch eine gewisse Hybris der Unimedizin gegenüber der medizinischen Kompetenz in den kleinen Häusern. Da haben sich nicht viele Kräfte um Wolgast gekümmert. Potenziale und Probleme des Krankenhauses wurden unterschätzt. Wir wollen das jetzt gut machen. 

HEALTH TRANSFORMATION HUB
Hört man sich aktuell um, dann werden besonders Sie beide von vielen Menschen sehr gelobt. Was machen Sie anders? 


 

KÖHLER
Wir setzen auf transparente Kommunikation und Kultur. Wir wollen proaktiv und frühzeitig kommunizieren. So informieren wir beispielweise über den Neubau der Notaufnahme, über Planungen. Wir haben einen guten Draht zur Ostsee-Zeitung und zum Bürgermeister. Wenn es etwas zu besprechen gibt, dann reden wir darüber. Das kommt gut an. 

ZACH
Seit eineinhalb bis zwei Jahren wird bemerkt, dass das Haus stabiler wird, die Fallzahlen betreffend, aber vor allem auch personell. Das ist in der Bevölkerung spürbar. Aber natürlich gibt es auch noch Skeptiker, die immer noch fürchten, dass das Haus abgewickelt wird. 

HEALTH TRANSFORMATION HUB
Wenn man sich in Wolgast umhört, dann hört man oft, dass mit Ihnen beiden endlich zwei Menschen da wären, die sich wirklich für das Krankenhaus einsetzen. Ist da etwas dran? 

 

ZACH
Ich habe vorher in der Unimedizin gearbeitet und mich ganz bewusst für Wolgast entschieden. Für die langfristige Sicherstellung der medizinischen Versorgung der Region ist es essenziell, dass Maximal- und Grund- und Regelversorger zusammenarbeiten und sich gegenseitig ergänzen.  


KÖHLER
Natürlich! Ich bin zwar erst seit 14 Monaten Geschäftsführer des Krankenhauses, aber als Kind der Region habe ich mich ja immer schon dafür interessiert – es kommt mir fast unglaublich vor, dass ich nun Geschäftsführer des Krankenhauses bin, in dem ich als Kind operiert wurde.

HEALTH TRANSFORMATION HUB
Bestimmt wurden Sie als 16. Geschäftsführer in 14 Jahren nicht gerade mit offenen Armen empfangen, oder? 

 

KÖHLER
Ich habe am Anfang gespürt, dass einige Mitarbeitende dachten: Ach, da kommt der nächste Geschäftsführer, mal gucken, wie lange der bleibt. Ich habe oft gehört: Jaja, das haben schon viele vor Ihnen gesagt. Das habe ich nie persönlich genommen. Das Schwierige war hier auch lange die Instabilität. Ich spiele da auf Zeit. Mit 14 Monaten bin ich schon länger da als viele meiner Vorgänger. Ich kannte die Probleme des Hauses ja. Das macht ein anderes Teamgefühl, einen anderen Blick auf den Geschäftsführer. Ich bin wohl inzwischen ganz gut angekommen. Es ist nicht immer alles rosa-rot, aber wir bemühen uns – gemeinsam mit Frau Dr. Zach – um Stabilität und darum, die Spielräume zu finden und zu nutzen. 

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Was führte dahin? 

 

KÖHLER
Man muss sich gut überlegen: Wer sind meine Adressaten? Wer interessiert sich dafür, was mit diesem Haus passiert? Beispielsweise der Bürgermeister, die Bürgerinitiative, die Medien. Mit denen muss man ehrlich und transparent kommunizieren: Was bewegt sich im Haus? Wo entwickelt es sich hin? Was sind mögliche Strategien dabei? Damit ist schon mal viel gewonnen. Wichtig ist auch, zu versuchen, in leitenden Funktionen stabil besetzt zu sein und Kompetenzen im Haus zu nutzen, um das Haus voranzubringen. Wir sind für unsere Größe ein Super-Haus. Es ist familiär, personell gut aufgestellt, und es ist ein Haus, das als Team lebt, das wird recht positiv wahrgenommen.

Aber es geht auch um Ehrlichkeit, man darf den Leuten nicht irgendeinen Mist erzählen. Das mache ich nicht. Auch unternehmensintern nicht. In Bezug auf die Energiekrise sage ich beispielsweise ganz ehrlich: Ich weiß nicht, wo diese Reise wirtschaftlich hingeht, ich kann mich nur auf das verlassen was die Politik versprochen hat, dass sie uns nicht hängenlässt, aber als Kaufmann bin ich erstmal vorsichtig. 

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Nun wurde ja gerade beschlossen, dass Projekt der Kinderportalpraxisklinik über den 31. Mai 2023 hinaus nicht zu verlängern. Trotzdem gibt es scheinbar keinen massiven Protest – liegt das auch daran, dass das anders kommuniziert wurde als die Schließung der Stationen 2016?  

 

KÖHLER
Ja, das liegt sicher auch daran. Die Ministerin war mehrere Male hier und hat mit der Bürgerinitiative gesprochen. Und wir haben ganz transparent gemacht, wie wenig das Angebot genutzt wurde. Pro Tag waren das im Durchschnitt ja nur drei Kinder – die auch durch die ganz normale ambulante Struktur hätten versorgt werden können. Kosten und Nutzung waren vollkommen unverhältnismäßig. Trotzdem hat das Ministerium das Angebot ja nicht einfach geschlossen, sondern für einen Anschluss gesorgt. Für die Versorgung wäre der nicht nötig gewesen. Aber das ist ein Kompromiss – und das hat auch die BI erkannt.   

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Wie nehmen Sie generell die Stimmung in Wolgast in Bezug auf das Krankenhaus wahr? 

 

KÖHLER
Die Gegnerschaft ist nicht mehr so massiv, die Gräben sind nicht mehr so tief.  Momentan ist es ruhig. Die kinderärztliche Versorgung ist gut, wir haben einen zusätzlichen Rettungswagen und 24/7 einen Hubschrauber.

Zweimal im Jahr treffen wir uns mit der BI – es ist ja klar, dass die BI ein Interesse hat, zu erfahren, was hier passiert und wie es weiter geht. Die Forderungen gehen ja jetzt schon sehr weit, beispielsweise die Abschaffung der DRGs – aber einiges findet sich ja tatsächlich in den aktuellen Reformüberlegungen auf Bundesebene. Es ist klar, dass Krankenhäuser wie Wolgast nicht nur aus den Fallpauschalen leben können – und das deckt sich mit den Forderungen der BI. Letztendlich kommt uns das entgegen: Ich will Patienten versorgen und brauche dafür eine Struktur, die uns das ermöglicht. 

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Haben Sie einen Rat an die Politik?  

KÖHLER
Mein Rat an Ministerpräsidentin Schwesig wäre: Wenn die Politiker sich dazu bekennen, jeden Krankenhausstandort erhalten zu wollen, dann müssen sie auch dafür sorgen, dass sie auskömmlich finanziert sind. Das ist momentan nicht der Fall. Die DRGs decken nur die Betriebskosten, Investitionen sind davon nicht möglich. Wolgast bekommt ca. 400.000 Euro Investitionsmittel im Jahr, gedeckt ist mit dieser Zuwendung nicht einmal die Hälfte der notwendigen Anschaffungen. 

Kontakt

Ihre Ansprechpartner  

rund um die Projekte zum Thema Transformation von Versorgungsstrukturen im Gesundheitssystem

Dr. Johannes Leinert
Dr. Johannes Leinert

Senior Project Manager
Bertelsmann Stiftung

Dr. Christian Schilcher
Dr. Christian Schilcher

Project Manager
Bertelsmann Stiftung